Estland nutzt Nation Branding, um sich nach dem Fall der UdSSR als modernes, demokratisches Land zu präsentieren. Doch die Integration der russischsprachigen Minderheit bleibt eine Herausforderung.
Einleitung
Estland wird als Wunderkind des postkommunistischen Raums gefeiert: von einer ärmlichen Sowjetrepublik zu einer Demokratie mit niedriger Staatsverschuldung, starkem Wirtschaftswachstum und einer digitalen Vorreiterrolle. [1]
Die baltischen Staaten haben im Vergleich zu anderen ehemaligen Ländern der Sowjetunion einen einzigartigen historischen Kontext durch ihre vorsowjetische Staatlichkeit. Dieser beeinflusst auch deren Konzept von Unabhängigkeit und nationaler Identität.
Nach dem Fall der Sowjetunion erkannten estnische Eliten schnell die Bedeutung von Image und Symbolen eines Landes und deren Einfluss auf die Neugestaltung der estnischen Unabhängigkeit. [2] Durch Nation Branding wurde Estland zu einem demokratischen Spitzenreiter [1] [2] in der Europäischen Union. [3]
Dennoch werden Herausforderungen wie Armutsquoten, Bevölkerungsrückgang und die der Umgang mit der russischen Minderheit oft vernachlässigt im öffentlichen Diskur [3] [4] .
Der EU-Beitritt als Hoffnungsschimmer
Nach 1989 war für Estland eine Mitgliedschaft in der EU das Hauptziel. Die Idee der „Rückkehr zu Europa“ ist seit den 1990ern ein Diskurs, der alle post-sowjetischen Länder betrifft. 1997 wurde Estland als erstes Land Osteuropas bereits zu Gesprächen über eine potenzielle Mitgliedschaft von der EU eingeladen. Der damalige Premierminister Mart Laar meinte daraufhin, dass Estland eigentlich, wie Finnland ein nordisches Land sei, weil sie geografisch, sprachlich und kulturell ähnlich seien.
Damit will man sich loslösen von der traumatischen, illegalen sowjetischen Besatzung, hin zur ‚wahren’ Identität, die sich an westlichen Werten orientiert. Diese Rückkehr impliziert, dass Estland seine Souveränität und seinen rechtmäßigen Platz in Europa wiederherstellte und nicht zum ersten Mal unabhängig wurde. [5]
Diese Verbindung zwischen Estland und Europa prägt sowohl das Bild für europäische und internationale Akteure als auch das Bild der estnischen Innenpolitik für deren Bevölkerung. [6] Diese hält das künstliche Image aufrecht: Estland als makelloses Transformationsland Osteuropas mit einer liberalen Demokratie. [7] Estland wird von der EU als Paradebeispiel verwendet, gilt aber trotzdem als wirtschaftlich schwaches Land. Nach dem erreichten Entwicklungsniveau des Index für wirtschaftliche Freiheit, hält Estland eine bescheidene Position mit Platz 40 in der Welt. [5] [6] [8] Das liegt unter anderem daran, dass es in Estland ein niedriges Level an politischer Partizipation, wenig Vertrauen in Institutionen und ein fragmentiertes Parteiensystem gibt.
Nation Branding als Instrument für das ‚neue’“ Estland
Nation Branding ist das gezielte Bemühen von Regierungen, ein bestimmtes Image ihres Landes zu formen und Investitionen anzuziehen. Moderne Werbung wird mit Interessen der Bevölkerung und der Politik kombiniert, um eine nationale Identität in ein internationales Marketing-Asset zu verwandeln.
Für die Nationen der ehemaligen Sowjetunion war das ein Instrument, um die kapitalistische Zukunft zu navigieren. Estland startete die Kampagne /KURS/Brand Estonia/KURS/, ein „nördliches Land mit einem Twist”, beworben auch als „das neue Skandinavien“ oder die „IT-Nation“ [7] [8] , was politische und wirtschaftliche Vorteile bringen sollte.9 Das Branding zielte auf die Abgrenzung von der sowjetischen Vergangenheit ab.10
Nation Branding ist eine Form von Soft Power, Machtausübung durch Beeinflussung ohne wirtschaftliche Anreize oder militärische Bedrohungen, lenkt die Aufmerksamkeit ab aus einer negativen, sowjetischen Vergangenheit [9] [10] und präsentiert, was ein Land in der internationalen Gemeinschaft anbieten kann. Die nordische Identität wurde durch europäische Abstammung und gemeinsame Werte, sowie heldenhafte Taten, die zur Unabhängigkeit führten, betont. 11
Nation Branding vereinfacht komplexe Gebilde zu einer simplen Darstellung, um die Vermarktbarkeit eines Staates zu verbessern.12 Es ist ein kommerzielles Mittel indem Laissez-faire-Wirtschaft mit politischer Freiheit gleichgesetzt wird.
Estland ist somit nicht ein Vorbild für postmodernes Branding, sondern vielmehr eine Mischung aus moderner, realistischer Werbung um eine bereits vorhandene, jedoch lange unterdrückte vor-sowjetische nationale Identität in ein internationales Marketinginstrument verwandelt wird. Durch diese Verallgemeinerung werden abweichende Meinungen unterdrück [11] . Allerdings kann kollektive Erinnerung dadurch nicht ausgelöscht werden. „Brand Estonia“ ist eine zukunftsorientierte Vision von sich selbst, die vermutlich eine selbst erfüllende Prophezeiung darstellen soll. [13]
Die zurückgelassene russische Minderheit
Die Herausforderung in Estland umfasst besonders die Integration der russischsprachigen Minderheit, zu der circa 30% der Bevölkerung gehören. Der russische Einfluss auf die estnische Identität wird oft übersehen, obwohl Estland zwei Jahrhunderte lang Teil des Russischen Reiches und später der Sowjetunion war. [14] Aus postkolonialer Perspektive wird das östliche Erbe, insbesondere das russische Erbe verschwiegen um Ähnlichkeiten mit den westliche Betrachtern zu verdeutlichen.15
Die Auflösung der Sowjetunion zwang Estland, sich mit der Situation der russischsprachigen Minderheiten auseinanderzusetzen und neue nationale Identitäten zu schmieden. Entsowjetisierung ist ein Prozess, der eng mit ‚dem Anderen’ und ‚Falschen’ verbunden wird. Damit wird auch die Immigration der russischen Minderheit in dieser Zeit verbunden, was zu einer systemübergreifenden Benachteiligung führt. Im Vergleich zu den estnischen Esten haben russisch-stämmige Esten ein [12] anderes Bildungssystem mit einem unterschiedlichen Verständnis von Geschichtsunterricht. Der fehlende Estnisch Unterricht führt zu geringeren Jobchancen.16Im öffentlichen Diskurs wird oft von einem ‚zweiten Estland’ gesprochen: der Teil der Bevölkerung, die als Verlierer der post-kommunistischen Veränderung gesehen werden.
Die Unzufriedenheit der russischsprachigen Bevölkerung spiegelt sich auch im Wahlverhalten wider, durch den Aufstieg der populistischen radikalen Rechten Partei EKRE (Estnische konservative Volkspartei). EKRE mobilisiert Bürger:innen [13], die sich zurückgelassen fühlen und mit der Demokratie im Land unzufrieden [14] [15] sind, darunter die Frustration und politische Entfremdung der russischen Minderheit.17
Die Beschränkungen, wie etwa die nicht anerkannte in der Sowjetunion erworbene Staatsbürgerschaft, gegenüber der russischsprachigen Minderheit wurden nach und nach aufgehoben. Das geschah unter dem Einfluss von ‚europäischen’ und ‚nordischen/skandinavischen’ Ideen. Die ‚europäischen’ Ideen brachten direkte Veränderungen für die Minderheitenrechte durch EU-Regelungen, während die ‚nordischen/skandinavischen’ Ideen eher symbolisch waren und Estland als offene und tolerante Gesellschaft darstellten.18
Der EU-Beitritt hatte sowohl positive als auch negative Effekte. Er brachte eine gesteigerte Rechtssicherheit mit sich, aber auch einen ideologischen Kurswechsel, Protektionismus als Ersatz für die einst liberale Politik [16] [17] .19 Es ist wichtig, über die dominante westliche Perspektive hinauszugehen, um die Vielfalt der Themen zu erkunden, die dieses Ereignis [18] in breiteren sozio-politischen Debatten in Europa aufwirft. So etwa, die Vernachlässigung der russischen Minderheit, im sonst erfolgreichen Nation Branding.
1,7,14,17 Saarts, Tõnis; Kunitsõn, Nikolai; Vetik, Raivo: Liberal Democracy in Estonia: Cracks behind the Seemingly Spotless Façade, Plural, Vol. 11, Issue 1, DOI: 10.37710/plural.v11i1_7, URL: bit.ly/3tzZIG4 (Zugriff: 29.03.24)
2,6,18 Oskolkov, Petr (2023): Estonianness in the Making: Transformations of Ethnic Democracy Model and Nationalism in Estonia, Ethnopolitics, Ethnopolitics, DOI: 10.1080/17449057.2023.2216981, URL: bit.ly/3GzBwZ6 (Zugriff: 29.03.24)
3,11, 15,20 Pawlusz, Emilia and Polese, Abel (2017): “Scandinavia’s best-kept secret.?” Tourism promotion, nation branding, and identity construction in Estonia (with a free guided tour of Tallinn Airport), Nationalities Papers, 2017 Vol. 45, No.5, 873-892, DOI: 10.1080/00905992.2017.1287167, URL: bit.ly/3vGq9JB (Zugriff: 29.03.24)
4,16 Jordan, Paul Thomas (2011): The Eurovision Song Contest: Nation Branding and Nation Building in Estonia and Ukraine. PhD thesis, University of Glasgow.
5,10,12 Jordan, Paul (2014): Nation Branding: A Tool for Nationalism?, Journal of Baltic Studies, 45:3, 283-303, DOI: 10.1080/01629778.2013.860609, URL: bit.ly/3HvgLfq (Zugriff: 29.03.24)
8,19 Sepp, Jüri (2007): Estland: Eine ordnungspolitische Erfolgsgeschichte?, Ordnungspolitische Diskurse, No. 2007-02, OrdnungsPolitisches Portal (OPO)
9,13 Jansen, Sue Curry (2008): Designer nations: Neo-liberal nation branding – Brand Estonia, Social Identities, 14:1, 121-142, DOI: 10.1080/13504630701848721 , URL: bit.ly/2XeBcOM (Zugriff: 29.03.24)